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ADHS: Mythen und Missverständnisse

ADHS gibt es gar nicht? Das Kind braucht nur eine strenge Hand? Schüler mit ADHS sind einfach nur faul? Lesen Sie hier, was von solchen Vorurteilen zu halten ist.

Irrtümer und falsche Vorstellungen über ADHS sind so alt wie die Krankheit selbst. Ihre negativen Auswirkungen sind sehr real - und sehr schädlich. Informieren Sie sich über die Wahrheit und wappnen Sie sich mit Fakten, um den nächsten uninformierten Kommentar über "schlechte Erziehung" zu widerlegen.

Mythos Nr. 1: ADHS ist keine echte Krankheit

ADHS wird von den wichtigsten medizinischen, psychologischen und pädagogischen Organisationen als legitime Diagnose anerkannt. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (früher als Aufmerksamkeitsdefizitstörung bezeichnet) ist biologisch bedingt. Die Forschung zeigt, dass es auf ein Ungleichgewicht der chemischen Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn zurückzuführen ist. Die Hauptsymptome sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und manchmal Hyperaktivität.

Wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen mangelt es auch bei ADHS an biologischer Validität. Das bedeutet, dass die Experten die zugrunde liegenden biologischen Ursachen oder die genaue Pathologie von ADHS noch nicht verstehen. In den meisten Bereichen der Medizin sind die zugrunde liegenden Krankheitsbilder sehr gut definiert. Die Psychiatrie bildet hier eine Ausnahme.

Auch für ADHS gibt es keine objektiven diagnostischen Tests, mit denen festgestellt werden kann, ob eine Person an dieser Störung leidet. Stattdessen verwenden Ärzte Symptombeurteilungen und andere Maßnahmen, um die ADHS-Symptomatik zu bestimmen.

Obwohl Wissenschaftler hart daran arbeiten, biologisch valide und objektive diagnostische Tests zu finden, gibt es in der Zwischenzeit andere Möglichkeiten, um sicher zu gehen, dass ADHS vorliegt. Die erste Möglichkeit ist das, was Wissenschaftler als Reliabilität bezeichnen. Damit ist gemeint, dass zwei verschiedene Ärzte dasselbe Kind untersuchen und unabhängig voneinander zur selben Diagnose kommen können.

Die Diagnose ADHS ist sehr zuverlässig. Sie ist sogar eine der zuverlässigsten Diagnosen in der gesamten Psychiatrie und insbesondere in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Zuverlässigkeit der Diagnose ADHS ist vergleichbar mit der Zuverlässigkeit der Diagnose einer Lungenentzündung durch ein Röntgenbild der Brust (ein Beispiel für einen objektiven diagnostischen Test).

Mythos Nr. 2: ADHS ist eine Erfindung der Pharmaindustrie

ADHS ist weder ein modernes Phänomen noch eine rein westliche Erscheinung. Es wurde nicht auf Druck der Pharmaindustrie oder als Reaktion auf den modernen akademischen Druck und das Streben nach schulischem Erfolg erfunden. Natürlich sind dies wichtige Aspekte, die möglicherweise zu einer Überdiagnose von ADHS beitragen. Aber ADHS lässt sich nicht ausschließlich durch diese Phänomene erklären.

Wenn man in der medizinischen Literatur ein Jahrhundert zurückblättert, findet man Beschreibungen von Symptomen, die denen von ADHS sehr ähnlich sind. Vor einem Jahrhundert gab es diese spezifische Diagnose noch nicht, aber Ärzte haben hyperaktive, impulsive und unaufmerksame Kinder beschrieben, also all das, was wir heute unter der Diagnose ADHS zusammenfassen würden. Einige der ersten Berichte stammen aus dem Jahr 1700.

Um 1800 schrieb der deutsche Arzt Heinrich Hoffmann Gedichte und zeichnete Illustrationen, um die Kinder zu beschreiben, die er in seiner Praxis sah. Ein gutes Beispiel ist der Zappelphilipp, den er wie folgt beschrieb:

"Ob der Philipp heute still
Wohl bei Tische sitzen will?“
Also sprach in ernstem Ton
Der Papa zu seinem Sohn,
Und die Mutter blickte stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
Was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt, und schaukelt,
Er trappelt, und zappelt
Auf dem Stuhle hin und her.

Hoffman beschreibt hier eindeutig ein hyperaktives, impulsives Kind - das gleiche Krankheitsbild, das wir heute als ADHS bezeichnen würden. Er beschreibt auch "Hanns Guck-in-die-Luft", einen Jungen, dessen Kopf immer in den Wolken schwebt und umherirrt.

ADHS ist kein rein westliches oder gar deutsches Phänomen. Das wissen wir aus epidemiologischen Studien über die Verbreitung von ADHS, bei denen Forscher eine große Zahl von Kindern in Gemeinden auf der ganzen Welt untersuchen und die Häufigkeit von ADHS feststellen. Diese Studien wurden auf dem afrikanischen Kontinent, in Südamerika, Asien, Nordamerika und Europa durchgeführt. Und es zeigt uns, dass ADHS tatsächlich weltweit vorkommt.

Die Häufigkeit von ADHS liegt weltweit ziemlich einheitlich bei 5 bis 6 % der jeweiligen Bevölkerung. Wäre ADHS ein rein westliches Phänomen, wären die Raten in Nordamerika und Europa sehr hoch und auf allen anderen Kontinenten sehr niedrig. Dies lässt sich aus den Daten jedoch nicht ableiten.

Mythos Nr. 3: ADHS ist das Ergebnis schlechter Erziehung

Das Problem liegt in der Gehirnchemie, nicht in der Disziplin. Wenn ein Kind mit ADHS während des Unterrichts laut plappert oder aufsteht, liegt das nicht daran, dass ihm nicht beigebracht wurde, dass diese Verhaltensweisen falsch sind. Es liegt daran, dass es seine Impulse nicht kontrollieren kann.

Tatsächlich kann eine übermäßig strenge Erziehung, bei der das Kind für Dinge bestraft wird, die es nicht kontrollieren kann, die ADHS-Symptome sogar verschlimmern. Professionelle Interventionen wie medikamentöse Behandlung, Psychotherapie und Verhaltensmodifikation sind in der Regel erforderlich.

Mythos Nr. 4: ADHS betrifft nur Jungen

Mädchen sind genauso häufig von ADHS betroffen wie Jungen. Das Geschlecht ist jedoch mitverantwortlich für die etwas unterschiedlichen Symptome, die bei Mädchen eher durch Zurückgezogenheit und Unaufmerksamkeit als durch Hyperaktivität gekennzeichnet sind. Deshalb werden Jungen häufiger diagnostiziert als Mädchen.

Mythos Nr. 5: Wer sich stundenlang auf Videospiele konzentrieren kann, kann unmöglich ADHS haben

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Kind mit ADHS in einem Bereich sehr ablenkbar ist, während es sich in anderen Bereichen sehr gut konzentrieren kann. Warum ist das so? Weil ADHS nicht bedeutet, dass man unaufmerksam ist. In Wirklichkeit bedeutet ADHS eine gestörte Aufmerksamkeit. Umgebungen oder Aktivitäten, die sehr stimulierend sind, können tatsächlich zu Hyperfokus führen. In alltäglicheren und weniger stimulierenden Umgebungen ist die Ablenkbarkeit am größten.

Mythos Nr. 6: Kinder mit ADHS wachsen aus ihrer Störung heraus

Mehr als 70 Prozent der Menschen, die im Kindesalter an ADHS erkrankt sind, leiden auch als Jugendliche noch daran. Bei bis zu 50 % bleibt die Erkrankung auch im Erwachsenenalter bestehen.

Obwohl schätzungsweise 6 % der erwachsenen Bevölkerung von ADHS betroffen sind, bleibt die Mehrheit dieser Erwachsenen unerkannt und nur jeder Vierte wird behandelt.

Ohne Behandlung sind Erwachsene mit ADHS jedoch sehr anfällig für Stimmungsschwankungen, Angstzustände und Drogenmissbrauch. Sie haben häufig Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, rechtliche und finanzielle Probleme und gestörte persönliche Beziehungen.

Mythos Nr. 7: Kinder, die ADHS-Medikamente einnehmen, neigen als Jugendliche eher zum Drogenmissbrauch.


Genau das Gegenteil ist der Fall. Unbehandeltes ADHS erhöht das Risiko für Drogen- und Alkoholmissbrauch. Eine angemessene Behandlung verringert dieses Risiko.

Es ist zwar richtig, dass Kinder mit ADHS häufiger Drogen missbrauchen als ihre neurotypischen Altersgenossen. Dieser Effekt ist aber nicht auf die Einnahme von Medikamenten zurückzuführen. Das wissen wir aus Längsschnittstudien, in denen wir Kinder mit ADHS, die Medikamente einnehmen, mit Kindern mit ADHS vergleichen, die keine Medikamente einnehmen.

Außerdem haben sich die Medikamente, die zur Behandlung von ADHS eingesetzt werden, seit mehr als 50 Jahren als sicher und wirksam erwiesen. Diese Medikamente heilen ADHS nicht, aber sie sind sehr wirksam bei der Linderung der Symptome. Nicht umsonst sind sie die erste Wahl bei der Behandlung.

Die Ursache für dieses Missverständnis ist ein sehr häufiger Fehler - die Gleichsetzung von Korrelation und Kausalität. Das Risiko des Substanzkonsums liegt in der ADHS, nicht in den Medikamenten. Auch Studierende, die sich Ritalin ohne Rezept von Kommilitonen als Hirndopingmittel besorgen, sind nicht unbedingt drogengefährdeter als ihre Kommilitonen.

Mythos Nr. 8: ADHS-Kinder erhalten ungerechtfertigte Privilegien

In der Tat sind Kinder mit ADHS deutlich benachteiligt. Ziel der Schulpolitik ist es, diese Benachteiligung so gering wie möglich zu halten. Längsschnittstudien zeigen, dass ADHS ein Risiko für eine Vielzahl negativer Folgen darstellt, wie zum Beispiel das Nichterreichen des Schulabschlusses, Schulabbruch, Teenagerschwangerschaften, Autounfälle und eine Reihe weiterer negativer Folgen.

Die Gesetzgebung zielt darauf ab, diese Risiken zumindest teilweise zu verringern, indem sie vorschreibt, dass öffentliche Schulen Kinder mit besonderen Bedürfnissen, einschließlich Kindern mit ADHS, berücksichtigen müssen.

Mythos Nr. 9: Kinder mit ADHS sind einfach nur dumm und faul

Es wird angenommen, dass viele berühmte und hochbegabte Persönlichkeiten der Vergangenheit an ADHS litten, darunter Mozart, Benjamin Franklin, Abraham Lincoln, George Bernard Shaw und Salvador Dali. Auf der Liste der erfolgreichen ADHS-Betroffenen in der heutigen Zeit stehen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Virgin-Gründer Richard Branson, der Kabarettist Eckart von Hirschhausen, die Schauspielerin Emma Watson, der Oskar-Preisträger Robin Williams oder der Basketballspieler Earvin "Magic" Johnson .

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